Ausgabe SA 02/12 · Richard Goerlich

Warum zur Hölle wohnen hier Menschen?

Es gab einmal ein Leben, in dem befand ich mich mehrere Wochen des Jahres als Musiker auf Tour. Eine solche Existenz besteht bekanntlich und maßgeblich aus zwei Dingen: zwischen den Städten im Bus sitzen (Hinfahrt) und zwischen den Städten im Bus sitzen (Rückfahrt). Was einem einerseits die Möglichkeit gibt, den vornächtlichen Kater angemessen zu verarbeiten, andererseits aber auch die Gelegenheit verschafft, entlang der A7 quer durch Deutschland eine gewisse analytische Autobahnperspektive auf Deutschlands Städte zu entwickeln. Und, glauben Sie mir: Am Fenster klebend, die Augen vorbeiziehenden Silhouetten nachjagend, fragte ich mich seinerzeit nicht selten: Warum zur Hölle wohnen hier Menschen? Was veranlasst sie, hierzubleiben, zu heiraten, Kinder zu bekommen, diese auf die Schule zu schicken, zu ermuntern, ebenfalls hier ihr Leben zu verbringen? Auch der Blick in die Fußgängerzonen – insbesondere so genannter „Mittelstädte“, zu denen auch Augsburg zählt – machte die Sache oftmals nicht besser. Bei Inaugenscheinnahme der immer gleichen Globalisierungsfilialen von Starbucks bis H&M blieb die Frage dieselbe: Ist das deren Ernst? Hier leben, arbeiten und wohnen Menschen? Man reiste erstaunt weiter, am Schluss nach Hause, in dieselbe gleichförmige Welt.

Heimat ist keine Begrifflichkeit von eindimensionaler Bedeutung. Heimat, das ist ein schwieriges Thema, auch in der x-ten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin und wohl noch eine ganze Weile. Heimat, das ist eine Idee, die gefährlich ist. Vor allem, weil sie das verspricht, was jeder sucht: einen beschützten Ort im Lauf des rauen Lebens. Heimat, das ist ein Identifikationspotenzial, nicht mehr und nicht weniger. Ob es ausgeschöpft wird, folgt einer schwer nachvollziehbaren Arithmetik aus unzähligen Parametern.

Aus der schwäbischen Kleinstadt Günzburg stammend, stolperte ich das erste Mal über die Frage, was denn Heimat für mich sei, als eine Vielzahl internationaler Journalisten in den 80er-Jahren in dem beschaulichen Städtchen auftauchten, um nach dem Verbleib des hier geborenen KZ-Arztes Josef Mengele zu fahnden. Hier hatte ich meine Kindheit verbracht, die Vertrautheit der Straßen und Gässchen ließ mich beschützt fühlen, sicher und daheim. Aber konnte, nein, durfte dies wirklich Heimat sein, wenn innerhalb dieser Mauern ein derartig schlimmer Mensch dieselbe Geborgenheit fühlte? Ich beschloss: nein. Ein Prozess innerer Distanzierung setzte sich in Gang, von dem sich mein „Günzburg-Gefühl“,wenn nicht sogar mein „Heimatgefühl“, bis heute nicht erholt hat.

Einige Jahre lebte ich in Berlin. Als ich neulich dorthin zurückkehrte, Straßen und Kiez von damals in Augenschein nahm, überkam mich ein sentimentales Gefühl: Hier hatte ich mich als junger Erwachsener zu Hause gefühlt wie nirgends zuvor. In der Fremde war ich auf etwas gestoßen, das ich zuvor abgestoßen hatte: ein Heimatgefühl, ein Gefühl von: Hier will ich sein! Nie wieder weg! Kommen, um zu bleiben! Nun, beim erneuten Besuch, trat an diese Stelle eine Art von pragmatischem Verstehen: Nicht Berlin, sondern ich selbst hatte mir damals dieses Heimatgefühl verschafft, in einer kompletten Anverwandlung der Idee, Wohnen und Arbeit, Feiern und Kultur, Kreativität und soziales Sein im Einklang zu erleben – etwas, das im Berlin der Nuller-Jahre so einfach schien wie an keinem anderen Ort. Kaum überraschend hatte sich dieses Empfinden irgendwann von selbst und vor allem mich zur Gänze erschöpft. Es war schlicht nicht mehr greifbar, nicht rückholbar, beim neuerlichen Flanieren durch den alten Kiez. Ist Heimat also eine Täuschung der Sinne? Ein temporäres Phänomen? Ich fühlte nicht mehr dasselbe. Ich war erstaunt.

aus Ausgabe SA 02/12

Das besondere Magazin für die erfolg-
reichen Seiten einer Region wurde
ausgezeichnet mit dem Bayrischen
Printmedienpreis 2010
.