Gut hundert Jahre ist es her, dass Augsburg auf dem Gebiet des Städtebaus Architekturgeschichte geschrieben hat. Augsburg sollte mit dem Thelottviertel Deutschland seine erste Gartenstadt bescheren. Der in Singen geborene, in der Fuggerstadt heimisch gewordene Architekt Sebastian Buchegger (1870–1929) plante und baute zwischen 1907 und 1929 entlang der Wertach eine Siedlung mit 106 Einfamilienhäusern, die meisten in Reihenbauweise, sowie 76 Miet- und Geschäftshäuser, die ein neues Denken im städtischen Wohnungsbau auslösen sollten. Die Idee vom urbanen Wohnen in grünen Zonen geht auf den Briten Ebenezer Howard zurück, der 1898 mit seinem Werk „Garden Cities of Tomorrow“ eine menschengerechtere Stadtplanung forderte. Die Schrift war in erster Linie eine sozialreformerische Kampfansage gegen die katastrophalen Wohn- und Lebensverhältnisse in den industriellen Ballungsräumen Englands zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sebastian Buchegger ließ die neuen, unkonventionellen städteplanerischen Gedanken des Engländers in seine Entwürfe für das Thelottviertel einfließen und wurde so zum ersten grünen Architekten Augsburgs.
Mit dem Projekt „Augsburg City“, dessen zentrale Elemente der Umbau und die Untertunnelung des Augsburger Hauptbahnhofs sind, ist das ebenfalls davon betroffene Thelottviertel gut 100 Jahre nach seiner Entstehung wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Man fürchtet um den Charakter und den Charme der ehemaligen „Buchegger’schen Einfamilienhaus-Colonie“, weil Baumaschinen großräumig das Quartier für den Bau eines Straßenbahntunnels anknabbern.
Wo der Bahndamm entlang der Rosenaustraße das nach der Augsburger Goldschmiedefamilie Thelott benannte Viertel einbettet, öffnet sich inzwischen ein jeden Maßstab sprengendes Loch, das wie ein gieriger Schlund nach der so lange währenden Geschlossenheit des Viertels zu schnappen scheint. Obwohl längst vom Straßenverkehr in der Perzheim-, Rosenau- und Pferseer Straße umflutet, konnte das Thelottviertel seine Struktur und seinen Charakter erstaunlicherweise bis heute weitgehend bewahren. Nun sticht der Zeitgeist, von dem der verstorbene Augsburger Architekt Raimund Baron von Doblho (1914–1993) meinte, er sei „meist sehr viel mehr Zeit als Geist“, den nördlichen Bereich des Viertels mit einer Straßenbahnschneise an, über deren Trassierung noch Fragezeichen schweben. Der Verkehrsfluss in der zu Stoßzeiten bereits jetzt überlasteten Rosenaustraße, der sich nicht selten bis zur Gögginger Brücke staut, wird künftig durch eine zusätzliche Querung weiter gehemmt, was sicherlich für mehr Schleichverkehr in den Wohnstraßen im Thelottviertel sorgen wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei dem Tunnelprojekt um ein nicht ganz bis ins letzte Detail durchdachtes handelt. Gewiss, seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts haben sich die Verkehrsbedingungen massiv verändert und mit ihnen die Bedürfnisse, doch die nach wie vor hervorragende Wohnund Aufenthaltsqualität blieb in dieser innenstadtnahen Siedlung gerade deshalb weitestgehend erhalten, weil sich Struktur und Charakter des Viertels seit seiner Planung so gut wie nicht verändert haben.