Ausgabe 04/2013 · Georg Klein

Der Traumwandler der deutschen Literatur

„Er fuhr ein schweres Motorrad, eine russische Militärmaschine. Das Fahrzeug war zu einer Dreiradlieferkarre umgebaut, auf deren Pritsche, in einem großen Drahtkorb, der verwertbare Müll, Schrott, Flaschen, Papier und abgelegte Kleidung, transportiert wurde. Der alte Händler war ein Seuschene, zumindest trug er stets die an einen Fes erinnernde Katzenfellmütze, jenes letzte Requisit der seuschenischen Hirtentracht, an dem die in der Stadt le- benden seuschenischen Männer hartnäckig festhalten. Den Sattel seines Gefährts verließ er nur selten. Die Anwohner kamen auf die Straße und warfen ihren Abfall in hohem Bogen in den Drahtkäfig. Dann versuchten sie ein kleines Entgelt dafür he- rauszuhandeln. Das Kind, ein dünngliedriges Mädchen, das durch den Innenraum des Drahtkorbs turnte, war für mich, den damals noch neugierigen Fremden, der eigentliche Augenfang. Mit affenartiger Geschicklichkeit kletterte es im Korb auf und ab, hielt sich mit Fingern und Zehen am Draht fest und schichtete das Gesammelte nach irgendeinem System über- und untereinander.“ (Aus: LiBiDiSSi, 1998, S. 52 f.)

Jetzt würde man Georg Klein gerne fragen, was er in der vergangenen Nacht geträumt hat, erschiene unserer Neugier dieses Ansinnen nicht zu privat, ja beinahe zu intim. Im Frühstücksraum des Hotels „Augs- burger Hof“ liegt auch an diesem Morgen, der einer abendlichen Lesung Georg Kleins in seiner Heimatstadt folgt, jene eigentümliche Stimmung, die jede Schwelle eines neuen Tages markiert, wenn die Nacht uns langsam aus fernen Welten ins helle Licht der Realität entlässt. Wie aus einem Traum entlassen auch die Romane von Georg Klein ihre Leser, sobald diese die rückwärtige Umschlagklappe nach der Lektüre eines seiner Bücher geschlossen haben. Wann der Traum beginnt, wo genau sich erlebbare Realität in nebulöse Phantasmen wandelt, ist oft schwer zu bestimmen. Den somnambulen Übergang von geschauter Wirklichkeit des lichten Tages in oft abgründige Nachtwelten in romanhafte Sprache zu gießen, dieses außergewöhnliche Talent bringt der Augsburger Wahl-Berliner und Teilzeit-Ostfriese in die deutsche Literatur ein.

aus Ausgabe 04/2013

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