„Was gibt’s neues? Was schreibt die Zeitung?“ Stammtische sind der Inbegriff von Gemütlichkeit: Man(n) trifft sich in trauter Runde zum geselligen Beisammensein und tauscht bei dem ein oder anderen Bier so manche Neuigkeiten aus.
Stammtische sind aber auch Orte heftiger Diskussionen – nicht umsonst reklamiert eine große bayerische Volkspartei regelmäßig die Stammtisch-Hoheit für sich: Da werden große und kleine Politik besprochen, Neuigkeiten aus dem Dorfleben kommentiert, Zeitungsschlagzeilen oftmals hitzig debattiert. Und pünktlich zur Europameisterschaft stellt ein jeder als sein eigener Bundestrainer die jeweilige Fußballnationalmannschaft auf. In letzter Zeit scheint dieses traditionelle Phänomen des regelmäßigen Treffens von Männerrunden in Gasthäusern zu den aussterbenden Traditionen unserer Breitengrade zu gehören. Höchste Zeit für einen Zustandsbericht aus bayerisch-schwäbischen Wirtshäusern …
„Dass es im Allgäu no viele Stammtische gibt, kann i mir ned vorstellen.“ Mit einer geballten Ladung Skepsis empfängt uns gleich der erste Gewährsmann, als wir ihn nach der gegenwärtigen Wirtshaus-Lage befragen. Seiner Meinung nach gibt es heute vielleicht noch manches Lokal, wo die Musiker nach ihren Proben hingehen. Das Problem seien aber die vielen Vereinsheime, unter denen die Wirtschaften zu leiden hätten. Als Sonthofener Flussmeister ist Simon Baur dienstlich viel auf den Dörfern herumgekommen. Dabei konnte der gebürtige Germaringer die Stamm- tische nicht mehr finden, die er während der 1960er- Jahre in den Dörfern um Kaufbeuren kennen gelernt hatte: Beim Wendelwirt in Obergermaringen zum Beispiel, „das war ein Stammtisch, so was hab’ i nie mehr erlebt.“ 15 Leute waren schon da, und oft ist der Kreis immer noch größer geworden – „die Stühle sind zum Schluss einen Meter vom Tisch weg gestanden.“
Das Besondere an diesem Germaringer „Muster“- Stammtisch war der soziale Querschnitt durch das ganze Dorf, das sich um ihn herum versammelt hat: „In der Wirtschaft war alles querbeet“ – vom Bürgermeister über die „Geschäftswelt“ aus Schreinermeister, Bäcker und Baugeschäftsinhaber bis zum Hilfsarbeiter, natürlich auch Bauern. Am Stammtisch kamen sie alle ins Gespräch, sonntags nach der Kirche die meisten, manche trafen sich auch am Samstagabend zum Kartenspielen. Simon Baur erinnert sich an eine Kartenrunde, „die war wild zusammengewürfelt“: Großbauer, Ziegeleibesitzer, Geschäftsmann und ein einfacher LEW-Arbeiter. Teuer gespielt wurde in der Runde, was sich der Arbeiter leisten konnte, weil er der Beste war und ohne Alkohol auskam. Der Landwirt war zwar auch ein guter Kartler, „aber nach sechs oder sieben Halbe hat der scho mal a Kalblgeld an oim Abend verspielt.“ Unser Gewährsmann selbst geht heute alle 14 Tage Karten spielen – in eine Sonthofener Wirtschaft, „die bald zumacht, da ist der Pächter schon umsonst drauf.“ Kein Wunder, findet Baur: „Die ganzen Sachen sterben aus, die Jungen spielen nicht mehr Karten“. Wobei er aber gleich definitorisch klarstellt: „Am Stammtisch wird ned Karten g’spielt, da wird g’ratscht. Erst wenn die Ratscherei rum is, wird an am andern Tisch kartelt.“
Der Frühschoppen-Stammtisch hat allerdings nicht allen immer nur die reine Freude bereitet. Der Vater des Berichterstatters erzählt aus seinen Dinkelscherbener Jugenderinnerungen mit einem Schmunzeln, wie die Bauern nach der sonntäglichen Messe ins Wirtshaus gestapft sind, sich in voller winterlicher Montur an den Tisch gesetzt haben – mit der Begründung: „I ziag an Mantel gar ned aus, i bleib bloß auf oi Halbe“. Aus dem angekündigten Einzel-Bier wurden natürlich fast immer mehrere, und so sind die Gäste oft erst am späten Nachmittag aus der Wirtschaft nach Hause aufgebrochen – selbstredend zum Leidwesen der wartenden Ehefrauen. „Manche sind am Vormittag neigangen und am Obend no dag’hockt“, bestätigt auch der Allgäuer Simon Baur. Er selber habe dies nicht praktiziert – denn das war „der Familie nicht zuträglich“.
Klagen über den Bedeutungsverlust des Stammtischs sind natürlich nicht neu, das weiß man auch ganz im Norden des schwäbisch-bayerischen Regierungsbezirks. Die Oettinger Museumsleiterin Petra Ostenrieder hat in ihrer Rieser Heimatstadt schon vor 20 Jahren das Lamento eines 95-jährigen Seniors gehört: „Wissen’s, des is ja heut’ nichts mehr.“ Als ihr Vater noch aktiver Stammtischler war, ist stets ein bestimmter Personenkreis aus der Stadt zusammen gekommen – ohne festen Termin, wie Petra Ostenrieder betont. Im Oettinger Jargon waren das „die Herra“: Seilermeister, Bankier, Weinhändler und Stadtrat, „wenn’s beschwingt zuging, hat der seine Lieder gesungen“. Manchmal auch der katholische Pfarrer – es war eine durchaus gehobene Veranstaltung. Aus allen Erzählungen der Museumsleiterin spricht deutlich ein städtisch-bürgerliches Selbstverständnis, wie es in der fürstlichen Residenzstadt Oettingen von jeher gepflegt wurde (und weiterhin kultiviert wird).



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