Ausgabe Architektur ·

Editorial

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

die alten Römer und Griechen haben immer gewusst, was sie unter den Begriffen architectura beziehungsweise architektonía zu verstehen haben: nämlich Baukunst, wobei die Betonung auf Kunst und nicht auf Bau gelegen hat. Im deutschen Alltag verbinden die wenigsten mit dem Wort Architektur die Gestaltung von gebautem Raum, die Ästhetik von Formen und Werkstoffen eines Gebäudes. Als Architektur wird vielmehr von der großen Mehrheit nahezu alles hingenommen, was bei uns aus Stein, Beton, Ziegelwerk oder Holz in die Höhe strebt, mag es noch so grausam sein. Diese Ignoranz, diese gelebte Gleichgültigkeit und das allgemeine Desinteresse an der Architektur sind schwer verständlich, zumal Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, ein Teil der Gesellschaft durchaus einen gepflegten Lebensstil zu schätzen weiß und es für viele zum guten Ton gehört, auf Reisen die architektonischen Spitzenleistungen der Vergangenheit und Gegenwart zumindest zu besichtigen, wenn nicht gar zu bewundern. Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao, Zaha Hadids Hungerburgbahn in Innsbruck, Le Corbusiers Chapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp oder Herzog & de Meurons Elbphilharmonie in Hamburg locken inzwischen die Deutschen ebenso in Massen an wie architektonische
Ikonen der Vergangenheit: Sei es der Parthenon-Tempel auf der Akropolis, das Kolosseum in Rom, Schloss Versailles bei Paris oder der Kölner Dom. Die gebaute Harmonie in Weiß eines griechischen Inselstädtchens zieht die Deutschen ebenso in den Bann wie das ausgewogene Zusammenspiel von Natur und Architektur in der Toskana. Die Deutschen scheinen also sehr wohl ein Gefühl für die Qualität architektonischer Formen und Proportionen sowie ihre Zuordnung im urbanen und ländlichen Raum zu besitzen. Nur finden sie Architektur, die diesen Namen verdient, vor ihrer Haustür selten vor, und sie fordern diese auch nicht ein. Das hat aus meiner Sicht im Wesentlichen drei Gründe: Die überwiegende Mehrheit der heimischen Architekten versteht sich
nicht als Künstler, sondern als leistungsfähige Producer von Bauvorhaben. Das ausufernde deutsche Baurecht und seine Vollstrecker in den Behörden ersticken nahezu alle Formen von Kreativität. Aber die Wurzel allen Übels scheint das deutsche Bildungssystem zu sein. Selbst in der Sekundarstufe II, die zur Hochschulreife führt, ist Baukultur kein Thema, die Architektur im Speziellen schon gar nicht. In Deutschland verhalten sich die Kultur des Bauens und das Humboldtsche Bildungsideal seit Jahr und Tag wie zwei ungleiche Schwestern, die nicht zueinanderfinden können. Man muss sich also nicht wundern, dass auch Schwaben heute so aussieht, wie es aussieht.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Oberressl

aus Ausgabe Architektur

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