Ausgabe Architektur ·

Die Stadt, in der wir gerne leben?

Im letzten Augsburger Antiquariat, inzwischen in einem Hinterhof der Maximilianstraße angekommen, konnte man ein Buch finden, das es im Handel nicht mehr gibt: Ludwig Curtius’ „Lebenserinnerungen“ – vom Augsburger Bürgersohn zum international angesehenen Archäologen, der in Rom, seiner letzten beruflichen Wirkungsstätte, ruht: „Deutsche und antike Welt“, erschienen 1950, vier Jahre vor dem Tod dessen, der 1874, also vor 150 Jahren, das Licht der Welt erblickte. Curtius, so erzählt der Archäologe seinen Lesern, wuchs auf in der Ludwigstraße, im Haus der Heilig- Kreuz-Apotheke, „gegenüber das Palais Schnurbein mit seiner edlen Louisseize-Hausteinfassade, in dem Napoleon einmal übernachtet hatte“, „links das stolze, hellgrün getünchte Palais, das ein paar alte Damen der Familie von Stetten bewohnten“. Der Schulweg des Gymnasiasten nach St. Stephan glich einem Parcours der Sozialisation mitten hinein in Tradition und Mythen der Vaterstadt: „Unten herum, zuerst an dem Hause der Kranzfelderschen Buchhandlung der herrliche spätgotische Erker aus der Zeit Kaiser Maximilians, nachher das breitgelagerte Haus, in dem Paul von Stetten, der Geschichtsschreiber Augsburgs, gelebt hatte“, und weiter über den Dom mit seiner tausendjährigen Geschichte. Ging es „‚oben’ herum“, verlief die Orientierung ganz ähnlich, stets entlang markanter Erinnerungspunkte aus der Stadthistorie, wobei die memorierten Gebäude mehr waren als Hausnummern: „Beim Weißen Lamm, in dem Goethe übernachtete, und beim Bremerhaus mit der Gedenktafel des alten, für den von der Jagd heimkehrenden Kaiser Maximilian von der Stadt erbauten ‚Einlaß’ um die Ecke“, wo der Weg „beim ‚Thäle’ in den weitläufigen Komplex der ehemaligen bischöflichen Residenz mündete“, der seinerzeit eine Reitschule beherbergte, „zu der oft schmucke Offiziere mit ihren Damen heranritten“. Der Bericht vom Schulweg des Ludwig Curtius zu Zeiten des jungen Wilhelminischen Kaiserreichs illustriert aufs Trefflichste eine Zeit, in der städtisches Leben – wie seit dem Mittelalter eigentlich in allen Epochen – getragen war durch eine „Tradition an Kenntnis, Bildung, Takt, Geschmack, Selbstbewußtsein“, eine urbane, metropolengebundene Kultur, ein Traditionsstrom, der das Gebilde Stadt erst zu dem machte, was heute noch die prächtige Kulisse seiner touristischen Vermarktungsmöglichkeiten abgibt, eine bürgerliche Tradition, deren Zusammenbruch der Literaturkritiker Karl Heinz Bohrer ein Jahrhundert später dann bedauernd konstatieren musste. Im Jahrtausende währenden „Drama der Stadt“ – ein Buchtitel des Historikers und Journalisten Eberhard Straub – war ein gänzlich neuer Akt angebrochen: „Die Großstädter bedurften der Vergangenheit ihrer Stadt nicht mehr, um in ihr zu leben und sich wohl zu fühlen.“ Ein Augsburger, ein Münchner oder ein Kemptener zu sein, diese lokal spezifische Gefühlsebene gehört nicht mehr zwingend wie ehedem zu den bindenden Identitätsankern des nunmehr modernen und fluiden Stadtbewohners, der sich wie ein Tourist in der eigenen Stadt bewegt. In der Projektausschreibung der Stadt Augsburg für die Innenstadtsanierung entlang der als „Kaisermeile“ apostrophierten Maximilianstraße klingt dieser Wandel um die Jahrtausendwende dann so: „Als Grundlage der Wettbewerbsaufgabe wurde von der gesellschaftlichen Vision ausgegangen, für alle Bevölkerungsschichten des Oberzentrums Augsburg und seines Einzugsbereiches mit ihren unterschiedlichen Lebensstilen einen urbanen ‚Erlebnisraum’ zu schaffen“.

aus Ausgabe Architektur

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