Während sich der See für den sommerlichen Ansturm der Erholungssuchenden rüstet, würde Anfang Juli jeden Jahres in der Lindauer Inselhalle ein babylonisches Sprachengewirr ertönen – wenn die Teilnehmer der „Lindau Nobel Laureate Meetings“ sich nicht auf Englisch als Lingua franca des Wissenschaftsbetriebes geeinigt hätten. Nobelpreisträger aus den Sparten Medizin und Physiologie, Physik und Chemie treffen am Bodensee auf handverlesene Nachwuchswissenschaftler, um in einer Art Meisterkurs Erfahrungen weiterzugeben: Man müsse das Kind in sich bewahren, die Forschung mehr als Spiel denn als Arbeit verstehen, als etwas, mit dem man Spaß haben kann – solche unkonventionellen Ratschläge erteilte 2012 William D. Phillips, in Ehren ergrauter Erfinder der Laserkühlung mit schelmischer Miene.
Als Graf Lennart Bernadotte im Herbst 1950 Besuch von den Lindauer Ärzten Franz Karl Hein und Gustav Parade bekam, wird er kaum vorausgesehen haben, dass dieser Nachmittag bei Kaffee und Kuchen den Grundstein für eine der spannendsten Wissenschaftsveranstaltungen unserer Zeit legen würde. Ursprünglich wollte man nur für das folgende Jahr einige internationale Forscher zu einem Medizinkongress einladen, um die deutsche Isolation im wissenschaftlichen Diskurs zu durchbrechen. Deutschland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in entscheidenden Fragen das Wissenschaftstor zur Welt, das mit der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler im „Dritten Reich“, um mit Albert Einstein nur den berühmtesten zu nennen, mit brutaler Ignoranz zugeschlagen wurde. Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es an der Zeit, Offenheit und Internationalität zu demonstrieren – als Teil einer Charme-Offensive der jungen Bundesrepublik, die erst mit den Olympischen Spielen von München 1972 ihren Höhepunkt und (leider dramatischen) Abschluss erlebte. Die beiden Lindauer Mediziner wussten um die Beziehungen des Grafen von der Blumeninsel Mainau zum schwedischen Königshaus und damit zu den Honoratioren des Stockholmer Nobelpreiskomitees, die eine hochrangige Referentenliste zu versprechen schienen. Heute, 63 Jahre und ebenso viele Veranstaltungen später, sitzt seine Tochter Gräfin Bettina Bernadotte dem Council of Lindau Nobel Laureate Meetings vor und führt somit eine honorige Familientradition fort.
Die Anfänge allerdings waren bescheiden: Lediglich sieben Nobelpreisträger sind der Einladung zum „European Meeting of Nobel Laureates in Medicine“ gefolgt, das vom 11. bis 14. Juni 1951 in Lindau tagte: Aus dem Gastgeberland der Chemiker Adolf Butenandt sowie die Ärzte Gerhard Domagk und Otto Warburg, der dänische Mediziner Carl Peter Henrik Dam, der Schweizer Paul Müller, William Murphy aus den USA
und der schwedische Chemiker Hans von EulerChelpin. Gerade die deutschen Wissenschaftler, die während des Dritten Reiches in führenden Positionen bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft forschten, wie Butenandt, hätten eigentlich unter besonderer Beobachtung stehen müssen: Während der SPIEGEL im Jahr 2006 auf „Freispruch für Butenandt“ plädierte, weil er entgegen vielfacher Beschuldigungen „in keine Nazi-Gräuel verstrickt“ gewesen sei, „weder jüdische Professoren aus ihrem Amt [verdrängte], noch während des Zweiten Weltkriegs Menschenexperimente [betrieb]“, kritisierte der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor in einem Gutachten aus dem Jahr 2000, Butenandt hätte eine Auffassung vertreten, „derzufolge Wissenschaft a priori mit politischer Unschuld gleichzusetzen sei“ und mit dieser verhängnisvollen Haltung „dazu beigetragen, die Bemühungen der Nachkriegszeit zu vereiteln, die Mittäterschaft der Wissenschaft bei den Verbrechen der Hitler-Ära aufzuklären“. Die Problematik von wissenschaftlicher Täterschaft und berufsethischen Fragen wird bei der ersten Lindauer Tagung des Jahres 1951 wohl kaum zur Sprache gekommen sein – die Aufarbeitung wissenschaftlichen Verhaltens im Nationalsozialismus sollte fast noch ein halbes Jahrhundert seiner Bestimmung harren.



AUSGABENARCHIV
02/2006
03/2006
04/2006
01/2007
SA 01/07
02/2007
03/2007
SA 02/07
04/2007
01/2008
SA 01/08
02/2008
03/2008
SA 02/08
04/2008
01/2009
02/2009
03/2009
SA 01/09
04/2009
01/2010
SA 01/10
02/2010
03/2010
SA 02/10
04/2010
SA 01/11
02/2011
03/2011
SA 02/11
04/2011
01/2012
SA 01/12
02/2012
03/2012
SA 02/12
04/2012
01/2013
SA 01/13
02/2013
03/2013
04/2013
01/2014
SA 01/2014
02/2014
03/2014
04/2014
01/2015
SA 01/2015
02/2015
03/2015
04/2015
01/2016
SA 01/2016
02 / 2016
03 / 2016
04/2016
01/2017
SA 02/2017
02/2017
03 / 2017
04/2017
01/2018
SA 02/2018
02/2018
03/2018
04/2018
01/2019
02/2019
03/2019
01/2020
02/2020
03/2020
04/2022
01/2023
02/2023
Architektur
03/2023
04/2023
01/2024
02/2024
Architektur
03/2024
04/2024
01/2025
02/2025
Architektur
03/2025