Es war schon immer hilfreich, sich am heimischen Brauchtum zu orientieren, wenn man einem mit der bayerischen Lebensweise nicht Vertrauten in wenigen Worten erklären sollte, wer in der Christlich-Sozialen Union das Sagen hat. Denn der Wortlaut des Artikels 1 des Grundgesetzes weiß-blauer Politik ist nahezu identisch mit der wichtigsten Regel beim Schafkopf, einem Kartenspiel, das unzweifelhaft zu den bayerischen Kulturgütern zählt. Die Regel lautet: „Der Ober sticht den Unter.“ Das versteht auch ein Nordlicht und ist die volkstümliche Kurzfassung des bayerischen Verfassungsgebots. Deshalb gehören das Obrigkeitsdenken und der Glaube an die Segnungen hierarchischer Strukturen ebenso zur DNA der staatstragenden Partei Bayerns, kurz CSU genannt, wie ihre immer wieder unter Beweis gestellte Fähigkeit zur Mutation „je nach Lage der Dinge“.
Aktuell und auf Bayerisch-Schwaben bezogen bedeutet der Code „O sticht U“, dass im christlich-sozialen Milieu Schwabens nach bleischweren Jahren erstmals wieder die Gesetze des Marktes gegriffen haben und der schwäbischen CSU – man möchte fast sagen aus heiterem weißblauem Himmel – ein neuer „Ober“ zugeschanzt worden ist. Die Landespartei wählte auf ihrem Münchner Parteitag Ende November den Augsburger Oberbürgermeister Kurt Gribl zu einem der fünf Stellvertreter ihres Parteivorsitzenden. Für Gribls Wahl musste sogar das alte Parteistatut dran glauben, denn bisher hatte ein Parteivorsitzender nur vier Stellvertreter.
Mit Gribl stieß erstmals ein Augsburger in das Allerheiligste der CSU vor, und die Vorsitzenden der zwei schwäbischen CSU-Bezirksverbände, Markus Ferber und Johannes Hintersberger, mussten wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass ein an Jahren halbwüchsiges CSU-Mitglied gleichsam aus dem Stand an ihnen vorbeigezogen ist. Damit herrscht in der schwäbischen CSU ab sofort eine neue Hackordnung, auch wenn es nicht zu Gribls Gepflogenheiten zählt, kraft Kommandogewalt zu agieren. Er kennt offensichtlich zielführendere und vor allem intelligentere Wege als das übliche innerparteiliche Hauen und Stechen, um sich politisch durchzusetzen.
Gribls überraschender Aufstieg in der Partei passt eigentlich nicht zur Augsburger CSU. Sie hatte in der Vergangenheit stets nur jene etwas werden lassen, die bereit waren, die berühmt-berüchtigte Ochsentour auf sich zu nehmen und von denen sie überzeugt war, dass sie in ihrem Auftreten und Wirken die Bezugshöhe von Hinterbänklern nicht überschritten. Letzteres diente vorwiegend zur Eigensicherung der Augsburger Parteiorganisation: Selbst ein Einäugiger hätte unter den Blinden nicht König werden dürfen, um das vieljährige personelle Elend der Augsburger CSU ja nicht zu offenkundig werden zu lassen. Und jetzt hat die Augsburger CSU plötzlich einen politischen überflieger in ihren Reihen, dem gar nichts von ihrem Stallgeruch anhaftet und der seinen politischen Karrieresprung ohne Augsburger G’schmäckle und de facto an der Augsburger Parteiorganisation vorbeigemacht hat. Selbst nach seiner erfolgreichen Wiederwahl zum Oberbürgermeister hat keiner dem Augsburger Rechtsanwalt ein solches Avancement in der CSU zugetraut. Eines muss man Kurt Gribl respektvoll zugestehen: So elegant wie er hat zuletzt nur der FC Bayern Gegenspieler vorgeführt.



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