Ausgabe 03/2014 · Zeitgeschichte

Der vergessene Augsburger Anarchist

„Wer schafft das Gold zu Tage? Wer hämmert Erz und Stein? Wer webet Tuch und Seide? Wer bauet Korn und Wein? Wer gibt den Reichen all ihr Brot und lebt dabei in bitt’rer Not? Das sind die Arbeitsmänner – das Proletariat.“ Diese Zeilen klingen nach flüchtiger Lektüre wie ein neu entdeckter Entwurf zu den „Fragen eines lesenden Arbeiters“, jenem sozialkritischen Gedicht, mit dem sich Bert Brecht 1936 aus dem dänischen Exil zu Wort gemeldet hat. Das Kampflied von den „Arbeitsmännern in bitt’rer Not“, das an die heroischen Zeiten proletarischen Aufbruchs im 19. Jahrhundert erinnert, geht nicht auf den weltweit gespielten Autor sozialkritischer Theaterstücke wie „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ oder „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ zurück, sondern führt vielmehr auf die Spur eines anderen Augsburger Homo politicus, der längst in Vergessenheit geraten ist und dessen Name – im Gegensatz zu Brecht – auf keinem Straßenschild seiner Vaterstadt zu finden ist. Die Rede ist von Johann Most, der zwei Generationen vor Bert Brecht mit Wort und Tat kompromisslos für die Anliegen des Industrieproletariats gekämpft hat.

Johann Most war zeit seines Lebens ein anarchischer Streiter und berüchtigter Agitator. 1846 als uneheliches Kind in bescheidensten Verhältnissen in Augsburg geboren, 1870 in einem österreichischen Gefängnis Verfasser des eingangs zitierten Liedes, 1874 bereits mit 28 Jahren Reichstagsabgeordneter für die Chemnitzer Sozialdemokratie, 1906 als unbeirrbarer Klassenkämpfer in Cincinnati im US-Bundesstaat einem Fieberleiden erlegen.

Mit den großen Söhnen einer Stadt hat es meist eine äußerst heikle Bewandtnis: Wer in der Gesellschaft aufsteigt und sich Anerkennung erwirbt, wird auch noch Jahre nach seinem Ableben als Sympathieträger vermarktet. Wer sich jedoch außerhalb der Gesellschaft positioniert, bürgerlichen Lebensformen den Kampf ansagt, viele Jahre seines Lebens als Hochverräter und Aufrührer in Gefängnissen verbracht hat, Anleitungen zum Bau von Bomben verfasst und Gewalt im politischen Kampf legitimiert hat, taugt nicht für die Erinnerungspolitik. Während Eugen Brecht, mit dessen Andenken sich Augsburg immer noch schwer genug tut, als kommunistisch gesinnter „Groß-Schriftsteller“ ein zutiefst bürgerliches Leben führte, blieb Johann Most lebenslang ein getriebener Prophet der proletarischen Revolution – bezeichnenderweise verstarb er, ein politischerer Wanderer zwischen Alter und Neuer Welt, im Alter von 60 Jahren während einer Vortragsreise in den USA. Nicht ohne Pathos nennt er in seinen Memoiren „die Sache der Menschheit“ seinen „Lebenszweck“: „Was ist das höchste Glück des Menschen?“, fragte er 1884 in Chicago seine Genossen – um ihnen seine Antwort gleich zu liefern: „Daß er jede seiner Handlungen, seiner Triebe und Fähigkeiten zur vollen Entwicklung gelangen zu lassen vermag […], wo sie nicht, wie die Feinde der Individualität wollen, zur Solidarität, die die Massentyrannei ist, gepresst werden.“

aus Ausgabe 03/2014

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