Ausgabe 02/2017 · Feuilleton

Luther und die Avantgarde

Jubiläen, vor allem wenn sie sich gleich eines ganzen Jahres bemächtigen, um ein außergewöhnliches historisches Ereignis in Ausstellungen, Festspielen und Veranstaltungen angemessen zu würdigen, versinken nicht selten in rokokohafter Opulenz und Überhöhung. Viele Laudatoren und Kuratoren erliegen dann der Gefahr, wenn im Mittelpunkt des Geschehens ein Weltgeist steht, die Persönlichkeit, die Werke und die Wirkungsmacht des Jubilars zu überzeichnen oder – noch schlimmer – auf wenige oder gar einen einzigen Aspekt zu reduzieren. Ein Weltgeist ist niemals zu zähmen. Schon gar nicht, wenn es sich um den Reformator Martin Luther handelt.

Wer sich im exzeptionellen Jubiläumsjahr 2017 auf Luther einlässt, um an jenes denkwürdige Ereignis zu erinnern, als dieser vor 500 Jahren am 31. Oktober seine 95 Thesen („Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum“) eigenhändig an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt haben soll und damit die Spaltung der christlich-abendländischen Kirche herbeiführte, muss sich in Zurückhaltung üben. Vor allem dann, wenn die unvergleichliche Lutherstadt Wittenberg als Erinnerungsort für die Inszenierung gewählt wird.

Den Kuratoren der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ ist dieses Vorhaben auf nahezu exemplarische Weise gelungen. Die Schau reicht von Gemälden, Skulpturen und Installationen über Wandmalereien, Fotografien, Zeichnungen, Video- und Sound-Arbeiten bis hin zu Performances. Dabei fordern die Kunstwerke vom Besucher ein genaues Hinsehen. Sie weisen auf Missstände hin und stellen Fragen – mal lauter, mal leiser. Künstler wie Ai Weiwei, Monica Bonvicini, Markus Lüpertz, Czilla Kudor, Song Dong, Eko Nugroho und Jonathan Meese präsentieren ihre Werke zu Themen wie Freiheit, Unterdrückung, Widerstand, Verantwortung und Toleranz vor dem Hintergrund weltweiter politischer, sozialer und religiöser Konflikte. Die Ausstellungsmacher waren darüber hinaus ganz schön mutig, sich in einem documenta-Jahr in eine unausbleibliche künstlerische Komparation mit Kassel einzulassen. Die Lutherstadt hat keinen Vergleich zu scheuen. Wenn nicht inspirierter, dafür umso nachdenklicher kehrt der Besucher aus Wittenberg zurück.

aus Ausgabe 02/2017

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